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Zu schnell zum Sehen: Wie Augenbewegungen die Grenzen unserer Wahrnehmung bestimmen

Die aktuelle Studie von Prof. Dr. Martin Rolfs vom Institut für Psychologie der Humboldt-Universität zu Berlin und dem Exzellenzcluster Science of Intelligence (TU Berlin) liefert neue Erkenntnisse darüber, wie unsere eigenen Augenbewegungen – sogenannte Sakkaden – die Grenzen unseres Sehvermögens festlegen. Die Forschung, veröffentlicht in Nature Communications, zeigt, dass wir extrem schnelle Bewegungen in unserer Umgebung nicht wahrnehmen können, wenn sie sich mit einer Geschwindigkeit, Dauer und Entfernung bewegen, die denen unserer Sakkaden entsprechen. Die Geschwindigkeit dieser Augenbewegungen setzt somit eine natürliche Grenze für das, was wir sehen können.

ZENTRALE Überblick

  • Sakkaden bestimmen, welche schnellen Bewegungen für uns sichtbar sind
  • Menschen mit schnelleren Sakkaden können auch schnellere Objekte wahrnehmen
  • Visuelle Wahrnehmung und motorische Kontrolle sind eng miteinander verknüpft

Sakkaden und Unsichtbarkeit schneller Reize

Sakkaden sind die schnellsten und häufigsten Bewegungen des menschlichen Körpers. Wir führen sie mehr als hunderttausend Mal pro Tag aus, meist unbewusst. Während einer Sakkade verschiebt sich das Bild auf unserer Netzhaut abrupt, ähnlich wie bei einer schnellen Kamerabewegung. Doch im Gegensatz zur Kamera nehmen wir diese Bewegung nicht als Unschärfe wahr. Die Studie zeigt, dass visuelle Reize, die sich mit der Geschwindigkeit und dem Bewegungsmuster einer Sakkade bewegen, für uns unsichtbar werden. Das bedeutet, dass unsere Wahrnehmung nicht nur durch die Empfindlichkeit der Augen, sondern auch durch die Eigenbewegungen unserer Augen begrenzt wird.

Bewegungen und Wahrnehmungsgrenzen

Welche Teile der Welt wir sehen, hängt nicht nur von der Biologie unserer Augen ab, sondern auch davon, wie wir sie bewegen. Prof. Dr. Martin Rolfs erklärt, dass unsere Sensoren – in diesem Fall die Augen – und unsere motorischen Handlungen ein fein abgestimmtes System bilden. Wir sehen zum Beispiel kein Infrarotlicht, weil unsere Augen dafür nicht empfindlich sind, und wir nehmen kein Flimmern auf Bildschirmen wahr, wenn die Frequenz zu hoch ist. Die neuen Erkenntnisse zeigen jedoch, dass auch die Dynamik unserer Augenbewegungen die Wahrnehmung begrenzt. Menschen mit besonders schnellen Sakkaden können auch schneller bewegte Objekte erkennen. Dies könnte erklären, warum etwa Spitzensportler oder Action-Videospieler*innen in bestimmten Situationen eine bessere Wahrnehmungsleistung zeigen.

Kinematik der Augenbewegungen als Wahrnehmungsfilter

Die Forschenden konnten belegen, dass unser visuelles System Reize, die sich wie eine Sakkade bewegen, gezielt ausblendet. Wenn Versuchspersonen ihren Blick starr hielten und ein Reiz sich mit saccadenähnlicher Geschwindigkeit bewegte, wurde dieser Reiz ebenfalls unsichtbar. Das legt nahe, dass das Gehirn Bewegungen, die den eigenen Augenbewegungen entsprechen, herausfiltert, um eine stabile Wahrnehmung der Umgebung zu ermöglichen. Dieser Mechanismus verhindert, dass wir die ständigen schnellen Bewegungen unserer eigenen Augen als störende Unschärfe erleben.

Fein abgestimmtes Zusammenspiel von Wahrnehmung und Motorik

Die Ergebnisse der Studie zeigen, dass unser visuelles und motorisches System eng aufeinander abgestimmt sind. Lange Zeit wurden diese beiden Bereiche getrennt erforscht. Die Studie macht deutlich, dass die Kinematik der Augenbewegungen einen direkten Einfluss darauf hat, welche Reize unser Gehirn verarbeitet und welche nicht. Die Forscher fordern, dass Wahrnehmungs- und Bewegungsforschung enger zusammenarbeiten, um das Zusammenspiel besser zu verstehen. Das Verständnis dieser Mechanismen kann helfen, neue Ansätze für die Diagnose und Behandlung von Wahrnehmungsstörungen zu entwickeln und erklärt, warum wir trotz ständiger Augenbewegungen eine stabile Sicht auf die Welt behalten.

Bedeutung für Alltag und Wissenschaft

Die Erkenntnisse dieser Studie sind nicht nur für die Grundlagenforschung relevant, sondern auch für praktische Anwendungen. Sie könnten erklären, warum bestimmte Menschen – etwa Spitzensportler oder Fotografen – besonders gut darin sind, schnelle Bewegungen zu erkennen. Außerdem liefern sie neue Ansätze für die Entwicklung von Seh- und Wahrnehmungstests sowie für die Verbesserung von Bildschirmen und Virtual-Reality-Systemen, die sich an die natürlichen Grenzen der menschlichen Wahrnehmung anpassen.